Nichts ohne das Andere

wie uns komplexe Systeme beeinflussen

Michael Danner

Vortrag in der Galerie im Science Park, Ulm, 2011

 

Objekte, die erst durch das komplexe Zusammenspiel der Einzelteile ihr Aussehen und Funktion bekommen und bei denen die Veränderung eines Teiles das Ganze wesentlich verändert, haben mich schon lange Zeit interessiert. So sind auch viele meiner künstlerischen Arbeiten aufgebaut.

In verschiedenen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften habe ich sporadisch immer wieder über die Untersuchungen im naturwissenschaftlichen Bereich von komplexen Systemen gelesen. Besteht zwischen dem vermehrten Auftauchen dieses Begriffes und meiner künstlerischen Arbeit ein Zusammenhang?

Wie jeder erfahren hat, entstehen in immer rascherer Abfolge globale Veränderungen. Manche sind plötzlich da, andere entstehen langsam, beginnen kaum merklich. Wer hätte noch vor kurzem geglaubt, dass in Nordafrika solche politische Umwälzungen stattfinden? Soziale und politische Spannungen und Unzufriedenheit waren wohl schon länger vorhanden. Durch eine neue von außen kommende Möglichkeit wurden die Revolutionen ausgelöst und ermöglicht: durch das neue Kommunikationsmittel Internet. Es war jetzt möglich, schnell und weiträumig Informationen auszutauschen und sich zu verabreden. Damit hatte niemand gerechnet.

Unerwartet, auch von Fachleuten, wurden wir vor nicht all zu langer Zeit von einer weltweiten Wirtschaftskrise überrascht.

Ein weiteres Beispiel: Ein hochkompliziertes System, auch mit großen Sicherheitsvorkehrungen, die Atomkraftwerke in Fukushima in Japan, wurden durch einen unerwarteten Auslöser, durch ein Erdbeben mit Tsunami, zum Kollaps gebracht. Dabei wurde offensichtlich, so zeigten es die Nachrichten, dass niemand mehr wusste was in den Reaktoren passierte.

Manche großräumige Veränderungen vollziehen sich zunächst langsam, haben jedoch um so markantere Auswirkungen, wie die globale, von Menschen verursachte Klimaerwärmung. Dadurch breiten sich unter anderem Wüstengebiete aus. Die dort lebende Menschen finden kein Auskommen mehr und ziehen weg. Migrationsdruck entsteht.

 

Die Erforschung der Dynamiken und Wechselwirkungen von komplexen Systemen ist ein relativ neues Forschungsgebiet der verschiedenen Wissenschaften und auch deren interdisziplinären Verbindungen. Dies erforschen z.B. das „Max Plank – Institut für Physik komplexer Systeme“ oder das „interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme“ der Universität Bonn, um nur zwei zu nennen.

 

Was ist nach wissenschaftlicher Vorstellung ein komplexes System?

Verschiedene Einzelteile stehen miteinander in einer Wechselwirkung und beeinflussen sich gegenseitig. z.B. Wassermoleküle im Wasser oder im sozialen Bereich Vater, Mutter, Kinder und das Komplexe: die Familie.

Komplexe Systeme sind meist auch offene Systeme. Sie stehen mit ihrer Umwelt in aktiver Verbindung und tauschen Energie mit ihr aus, z.B. erhält der Ozean Einträge durch die Zulaufflüsse und er gibt wieder Wasserdampf an die Atmosphäre ab.

Diese Systeme haben Mechanismen zur Bildung stabiler Strukturen durch Selbstorganisation. Diese können in der Lage sein Informationen zu verarbeiten und sogar daraus zu lernen.

 

Selbsregulierende Kräfte können Gleichgewicht und Balance verstärken und so stabilisierend wirken.

Jedoch besteht auch die Möglichkeit, dass minimale Veränderungen in den Anfangsbedingungen oder kleine Störungen zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen und Ergebnissen führen können. In manchen Bereichen können die Anfangsbedingungen nicht genau bestimmt werden, weil sie nicht exakt genug messbar sind oder weil sie sich der Bestimmbarkeit überhaupt entziehen. Aus der Chaosforschung, die solche offenen Entwicklungen mathematisch dargestellt hat, ist dies als „Schmetterlingseffekt“ bekannt geworden. In bestimmten fragilen Situationen kann sogar der minimale Einfluss eines Schmetterlingflügelschlags zu der langfristigen Veränderung des Wetters führen.

Die Abfolge der Ereignisse kann, durch unterschiedliche Faktoren bedingt, in ein Verhalten kommen, das nicht mehr vorhersagbar und klar berechenbar ist. Es kommt zu einem chaotischen Verhalten. Es bestehen immer wieder verschiedene nahezu gleichwertige, jedoch unterschiedliche Möglichkeiten der Weiterentwicklung.

Doppelpendel – Video

 

In komplexen Systemen erscheint Emergenz. Durch das Zusammenwirken der Einzelteile können für das Ganze unerwartete neue Eigenschaften auftreten. Untersucht man die Einzelteile, so kann man daraus nicht auf die Möglichkeiten des Gesamten schließen. Gas besitzt „Druck“ und „Temperatur“. Die einzelne Moleküle sind ohne diese Eigenschaft. Oder: aus der neurologischen Untersuchung des Gehirns kann man nicht auf das Vorhandensein eines Bewusstseins schließen. Oder: Aus der Betrachtung eines Fingers kann man nicht die Greiffähigkeit der ganzen Hand erkennen. Das Ganze ist mehr als die Einzelteile. Eigenschaften der makroskopischen Welt können nicht durch Eigenschaften der mikroskopischen Welt erklärt werden. Neue Verbindung von Einzelteilen können nicht vorhersagbare Eigenschaften, Zustände und Verhalten hervorbringen.

 

Komplexe Systeme ist Thema in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen:

In der Physik wird zum Beispiel das Verhalten von Atomen untersucht, die durch Selbstorganisation kleinste Verbindungen herstellen. So können im Computerbau, wo immer winziger werdenden Bauteile durch keine Maschine mehr gefertigt werden können, diese produziert werden.

In der Biologe wird das ökologische Zusammenleben von Populationen mit den Strukturen offener komplexer Strukturen betrachtet, wie das Wechselverhalten von Raubtier- und Beutetierpopulationen.

In den Wirtschaftswissenschaften wird von einer gewissen Selbstorganisation von Angebot und Nachfrage ausgegangen. Jedoch können die verschiedensten Einflüsse, wie Spekulationen oder plötzlich änderndes Konsumverhalten darauf einwirken.

 Weiter Forschungsgebiete der komplexen Systeme sind in der Chemie, der Wetterkunde, den neuen Medien, dem Internet, bei der Suche nach künstlicher Intelligenz. Auch in der Soziologie, der Medizin, der Neurologie, der Psychologie werden Abläufe mit dieser Methode betrachtet. Die Mathematik versucht entsprechende Formeln dazu mit nichtlinearen Differentialgleichungen zu modellieren. Es gibt wohl mittlerweile kein Gebiet, das nicht in dieser Weise betrachtet wird.

 Der Mensch selbst ist, wie wir wissen und laufend auch an uns selbst feststellen, ein komplexes System. Schon bei seiner Entwicklung können kleinste Veränderungen in der DNA zu einer anderen Persönlichkeit führen. Wir sind in ständigem Austausch mit unserer Umwelt verbunden. Einflüsse in einem Bereich können sich woanders auswirken. Wird jemand im sozialen Bereich gemobbt, so können dadurch neben psychischen Beeinträchtigungen auch körperliche Krankheiten auftreten. Wir sind eingebunden in Kreisläufe der Natur und Zeitrhythmen, die durch kosmische Bewegungen vorgegeben sind. Die Sonne gibt Tag und Nacht und die Jahreszeiten vor.

 


In der analytischen Betrachtung der klassischen Naturwissenschaft wird das Ganze in immer kleinere Einheiten zergliedert um dieses zu untersuchen und zu verstehen. Pierre Simon de Laplace (1747 – 1827) meinte Anfang des 19. Jahrhunderts die Natur berechnen zu können, wenn alle Kraftgesetze und Anfangsbedingungen bekannt sind. Dieser Glaube hielt sich bis lange ins 20.Jahrhundert. Jedoch wurde im Bereich der Naturwissenschaften mittlerweile erkannt, dass es Grenzen des Erfassens dieser kleinsten Bereiche gibt, wie es in der Quantenphysik die Heisenbergsche Unschärferelation darstellt. Dieses rein deterministische, konstruktive Weltbild ist durch das naturwissenschaftliche Erkennen von emergententen Phänomenen und dem oft chaotischen Verhalten komplexer Systeme überholt. Der Anspruch auf die Berechenbarkeit und Konstruierbarkeit der Welt besteht nicht mehr in dieser Weise. Die Wissenschaft rechnet jetzt mit Wahrscheinlichkeiten, Unbestimmtheiten und chaotischen Entwicklungen. Die reduktionistische atomisierende Methode der Naturwissenschaft hat sich umgedreht.

 

Gibt es auch andere Methoden um die Komplexitäten unserer Welt zu erfassen?

Schon vor über 2000 Jahren beschäftigte sich die asiatische Philosophie mit der Betrachtung des menschlichen Verhaltens als Teil eines höchst komplexen wechselwirkenden Systems von Natur und sozialer Umgebung. Dabei wurde versucht die oft undurchschaubaren, nicht logisch zu begreifenden Abläufe doch in ihren überraschenden Veränderungen zu erfassen. Das „I Ging“, das „Buch der Wandlungen“, ein Orakelbuch, das dem taoistischen Gedankengut zugerechnet wird, kann man als eine frühe Beschreibung von Wechselfällen des Lebens sehen. Es bietet eine Handlungsanweisung das Gleichgewicht zwischen Erde, Himmel und Mensch wieder herzustellen. So vertraut auch Laotse auf eine gewisse natürliche Selbstorganisation, wenn er sagt: „die Dinge hervorbringen aber nicht beherrschen“.

Im Zen-Buddhismus wird die Aufgabe gestellt über einen absurden Satz zu meditieren, wie: „stell dir das Klatschen mit einer Hand vor“. Diese intensive Meditation soll den eigenen Bewußtseinszustand und das Erkennen der Welt ändern. Meines Erachtens ist dies eine Methode die normalerweise für unseren Verstand nicht zu begreifende Emergenz zu erfassen. Schon auf der unteren Ebene, der Ebene der Einzelteile, also der Ebene der einen Hand, muss die nächste komplexe Ebene, die der Möglichkeit der zwei Hände, das Klatschen, erfasst werden. Eine Unmöglichkeit für das logisch kausale additive Denken.

Erst durch das Loslassen des logischen Denkens und dem inneren Erkennen von Ganzheitlichkeit kann das Komlexe direkt erkannt werden.

 

Besteht eine weitere Möglichkeit komplexe Bereiche zu erfassen?

„Intuition“ wird umgangssprachlich als „Bauchgefühl“ bezeichnet. Warum soll dieses Gefühl gerade aus dem Bauch kommen? Der Bauch ist die Mitte des Körpers. Die Mitte ist dort, wo alles von außen kommende zusammenläuft. Wie bei einem Rad, bei dem sich die großen Bewegungen des äußeren Kreises über die Speichen auf die Nabe konzentrieren. Wir sind so untrennbar mit den verschiedenen komplexen Lebensabläufen verbunden, dass wir diese ununterbrochen erfahren, diese uns geradezu bedingen. Meist reagieren wir darauf unbewusst, intuitiv. Ein ausgestreckter Arm erfordert eine Gegenbewegung des ganzen Körpergewichtes. So können wir aufrecht bleiben ohne umzufallen. Der Körper hält die Spannung der Balance. Mit rein rationalen Überlegungen dazu wären wir überfordert.

Intuition ist vielschichtiges Wahrnehmen um komplexe Zustände zu erfassen, die über die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung des rein logischen Verstandes hinausgeht. In einer Welt, die alles quantifizieren und messen will, mathematische Formeln für alle Entscheidungen anwenden und vorgeben will, verkümmert die individuelle Fähigkeit intuitives Handelns und das Vertrauen in diese Möglichkeit schwindet.

 

Ich denke, dass intuitive Fähigkeiten auch gestärkt werden können – wie?

Proportionen und Relationen machen das innere Gefüge eines Gebildes aus. Und genau dies, die richtigen Proportionen und Relationen für eine Darstellung zu finden, ist die Absicht und Aufgabe der Kunst. Wir merken es sofort, wenn bei einem Musikstück „falsche“ Töne gespielt werden.

Für die Kunst ist immer die Beschäftigung mit den Ereignissen einer Zeit die Ausgangslage. Es geht nur so. Der Künstler kann nur von dem ausgehen, das er selbst erfahren und erlebt hat. Er reagiert, auf Grund seiner besonderen Sensibilität, auf ihm bedeutend erscheinende Situationen. Dies sind oft Situationen, in denen eine Veränderung stattfindet. Dies kann eine Entwicklung zum Entstehen von Neuem sein oder auch ein drohendes Chaos. Der Künstler versucht die Strukturen aus diesem allgemeinen Geschehen zu erfassen und zu extrahieren. Diese formuliert er in einem Musikstück, in einem Bild, in einem Objekt, in einem Gedicht. Die künstlerische Methode ist eine ganzheitliche und entzieht sich der rationalen Erklärbarkeit. Die Kunst kann Menschen berühren. Der Betrachter, der sich auf ein Kunstwerk einlässt, und der davon berührt wird, wird diese Strukturen sozusagen benutzen können, um sein eigenen Erlebnisse zu interpretieren oder neu sehen zu können. Das intuitive Erfassen der fragilen Bereiche von Gleichgewicht und Balance, von Ruhe und Chaos, von Erschöpfung und Spannung wird dadurch gestärkt. Vielleicht können so auch Lösungen gefunden und Modelle entwickelt werden, wie eine Balance innerhalb dem Spannungsgefüge erreicht werden kann. Dies sehe ich als Aufgabe meiner künstlerischen Arbeit. Ich bin der Ansicht, dass zur Rationalität die Intuition der Kunst als Gegengewicht nötig ist.

 

Nichts ohne das Andere

 

Performance:

 

Objekt, bestehend aus zwei miteinander verbundenen Materialien: eine Bandfederstahlschleife und zwei Holzstäbe. Das bedingt die Form. Das Objekt ist flexibel. Bei Impuls rollt es auf dem Boden, verändert die Form, findet wieder zu der Ausgangsform zurück. Das System organisiert sich selbst. Bei Bewegung über einem kritischen Moment verändert sich plötzlich die Form und damit ändern sich die Eigenschaften.